Abzug für Vorinvalidität gerechtfertigt?

Besteht vor dem Unfall bereits eine Invalidität, erfolgt häufig ein Abzug für Vorinvalidität in der Unfallversicherung. Ob ein Abzug tatsächlich gerechtfertigt ist, ist nicht immer ganz klar. Das zeigt auch ein Nebenaspekt der Entscheidung OGH 7 Ob 105/21y (versdb 2021, 51).

 

 

Der VN erlitt im Jahr 1993 einen Unfall, bei dem ihm mit einer Luftdruckpistole in das linke Auge geschossen wurde. Seitdem hatte er eine verminderte Sehkraft am linken Auge.

 

Am 8. Mai 2017 schnellte ein Seil, das während des Rasenmähens abgetrennt wurde, dem VN in das linke Auge. Dieser Unfall führte dazu, dass das linke Auge funktionell blind ist.

 

 

Dem Versicherungsvertrag lagen die AUVB zugrunde. Die hier maßgebliche Bestimmung lautete auszugsweise:

„Artikel 7 – Welche Leistungen können bei dauernder Invalidität versichert werden?

1. Dauernde Invalidität mit Kapitalleistung

[…]

1.3. Wie wird der Invaliditätsgrad bemessen?

[...]

1.3.1. Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehenden genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten ausschließlich die folgenden Invaliditätsgrade:

[…]

der Sehkraft eines Auges…………………… 50 %

[…]

1.3.3. […] Waren betroffene Körperteile oder Sinnesorgane oder deren Funktionen bereits vor dem Unfall dauernd beeinträchtigt, wird der Invaliditätsgrad um die Vorinvalidität gemindert. (Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes, siehe Art. 19 Pkt. 2). [...]"

 

 

Entscheidung des OGH

 

Der OGH musste entscheiden, ob bzw. in welchem Umfang ein Abzug für Vorinvalidität erfolgen darf.

 

Vorschäden in einer nicht betroffenen Funktion müssen für den Abzug der Vorinvalidität unberücksichtigt bleiben. Der Invaliditätsgrad bestimmt sich nicht nach dem Ausmaß der Schädigung selbst, sondern nach deren Auswirkungen auf die körperliche Funktionsfähigkeit. Bei den Augen bildet die Beeinträchtigung deren Funktionsfähigkeit den relevanten Invaliditätsgrad. Es geht damit um die Beeinträchtigung der Sehkraft. Die Vorinvalidität des VN, die bereits die Sehkraft des linken Auges herabsetzte, ist daher bei der Bemessung der Versicherungsleistung zu berücksichtigen.

 

 

Interessanter Aspekt der Entscheidung

 

Der OGH sprach neben der Entscheidung zur Sehkraft des Auges aus, dass das Vorbringen des VN, es seien beim nunmehrigen Unfall und beim Vorunfall unterschiedliche anatomische und funktionelle Bereiche des Auges verletzt worden, gegen des Neuerungsverbot im Prozess verstößt und deshalb unbeachtlich ist.

 

Kommt es beispielsweise durch die Augenverletzung zu einer Schädigung der Augenhöhlenwand, die nun nicht die Sehkraft des Auges beeinträchtigt, muss dafür ein eigener Invaliditätsgrad (außerhalb der Gliedertaxe) ermittelt werden. Ein Abzug für Vorinvalidität (wegen Beeinträchtigung der Sehkraft bereits vor dem Unfall) darf dann für diese Verletzung nicht abgezogen werden, weil eine andere körperliche Funktion (Stabilisierungsfunktion der Schädelknochen) vorliegt. Dazu ein anderes Beispiel, das dies verdeutlicht: Kommt es nach einer Hirnverletzung oder einem Wirbelbruch zu Lähmungserscheinungen an den Armen, dann ist zunächst die Funktionsbeeinträchtigung des Armes nach dem in der Gliedertaxe genannten Armwert und dann die des Gehirns (Gehirnleistungsschwäche, Wesensveränderungen) oder der Wirbelsäule außerhalb der Gliedertaxe zu beurteilen (Grimm, Unfallversicherung - 6. Auflage - Ziff 2 Rz 105).

 

Kommt es daher zur Diskussion über den Abzug einer Vorinvalidität, sollte man genau prüfen, ob die gleiche Funktion vom Unfall betroffen ist. Nur dann darf ein Abzug erfolgen.

 

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